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Antifa-Roman

30 | Samstag

An diesem Samstagvormittag werden in Wiesbaden zeitgleich vierzehn Klingelknöpfe gedrückt.

Der Ablauf ist überall identisch. Vor der Tür stehen zwei Männer mit Sturmhauben. Einer spricht den öffnenden Neonazi namentlich an. Verdatterte Blicke treffen die beiden Vermummten. Sie hinterlassen eine eindeutige Botschaft.

„Wenn du nicht im Krankenhaus landen willst, dann hältst du ab sofort den Ball flach. Du wirst unseren Freunden an deiner Schule schön aus dem Weg gehen. Verstanden? Wird ihnen auch nur ein Haar gekrümmt, kommen wir bei dir vorbei. Egal ob du dabei warst oder nicht! Ihr haftet alle gemeinsam für eure Nazischeiße. Schönen Tag noch!“

Die meisten Nazis sagen kein Wort. Sie stehen nur reglos und irritiert im Türrahmen. Die Besucher verschwinden ohne weitere Worte und lassen vierzehn ziemlich geschockte Nazis zurück.

Weitzel erwacht gegen 12:30 Uhr in seinem versifften Bett. Die nikotingelben Finger tasten nach dem Päckchen Roth-Händle auf dem Nachttisch. Sein Auge schmerzt immer noch. „Glück gehabt“, sagte der Arzt. Isabella hat nur die Hornhaut verletzt.

Irgendwann zahle ich dir das heim, du kleine Fotze, denkt er und zieht geschickt eine Kippe aus der zerknitterten Packung. Er steckt sie zwischen die klebrigen Lippen und sucht das Feuerzeug. Die Flamme flackert auf. Genüsslich zieht er die giftige Wolke tief in seine schwarzen Lungenflügel. Er hustet. Den grünen Schleim spuckt er auf die Handfläche. Interessiert betrachtet er die weichen Bröckchen. Dann schmiert er sie an seine Unterhose. Muss eh bald mal gewaschen werden.

Isabella hat er gestern nicht gesehen. Sie ist ihm auch egal.

Die kann eh nichts machen!

Seine verquollenen Augen suchen die Uhr. „Scheiße“, murmelt Weitzel vor sich hin. Er kratzt sich an den Bartstoppeln, dann am Sack, „Ich muss zum Penny. Mittags ist manchmal der Mariacron schon alle. Scheiß Penny!“

Jeden Samstag führt sein Weg zuerst zu Penny. Der kleine Supermarkt liegt in der Gneisenaustraße, ein paar Ecken weiter. Weitzels Samstage sehen immer gleich aus. Die Kopie der Kopie. Eine schlechter als die nächste. Ewig grüßt das Murmeltier.

Ein Samstag ohne Penny ist für ihn undenkbar. Es muss Jahre her sein, dass Weitzel am Samstag den Laden nicht betrat. Aber einmal ist es passiert. Er erinnert sich mit Grauen daran. Sein Rauhaardackel Rex war gestorben. Damals, vor fünf Jahren. Der Trauertrunk hatte ihn ins Krankenhaus befördert. 3,6 Promille. Einmal Magen auspumpen. Das ganze Wochenende lag er zitternd in seinem Krankenbett. Er trauerte um Rex und bedauerte sich selbst.

Einkaufen am Samstag bedeutet Leben: Bier, Schnaps, Zigaretten. Weitzels Leben. Wiesbaden ganz unten. Die Wochenendration Spirituosen muss ins Haus. Seit er an der Schule arbeitet, steigt sein Alkoholkonsum stetig. Der samstägliche Einkauf ist der wichtigste Teil seines 48-Stunden-Deliriums am Wochenende. Und eine planungstechnische Herausforderung für den Hausmeister. Einmal hab‘ ich verschlafen. Oder die Neger an der Penny-Kasse haben heimlich früher zu gemacht!

Ein absurder Gedanke zwar, für Weitzel aber ein realer Verdacht. Sein Hirn läuft auf Nazi-Niveau: Wenn was schief läuft, waren’s die Neger. Oder die Flüchtlinge. Oder die Juden. Oder alle zusammen. Der Hausmeister liebt Vorurteile. Je einfacher, desto besser.

Der scheiß Penny hatte damals schon geschlossen. Ich musste alles am Kiosk holen.

Aber er ging nicht zur Trinkhalle, wo sein persönliches Bierglas wohnt, sondern drei Straßen weiter, zum „Bierkäfig“. In Weitzels Kopf gibt es eine einfache Ordnung: Trinkhalle = Biertrinken, „Bierkäfig“ = Alkohol kaufen. Die Aufteilung ist sinnlos. Aber sie gibt ihm Halt.

Das habe ich schon immer so gemacht.

Der Weg zum „Bierkäfig“ war weit.

Zwei Mariacron und zwölf Bierflaschen. Schlepp das mal. Das renkt dir den Arm aus! Das ist verdammt schwer das Zeug. Aber getrunken hab‘ ich da bei denen keinen Tropfen. Was für ein Laden. Schon der Name: Bierkäfig.

Er schüttelt den Kopf.

Ich sauf‘ doch nicht an so ’nem Kiosk aus der Flasche! Wie sieht das denn aus? Ohne Bierglas geht da nichts! Da geht nur Pack hin.

Weitzel ist ein Mann mit Prinzipien.

Der blöde Kiosk war scheißteuer. Doppelter Preis. Kapitalistensau. Bestimmt Jude. Dieser Halsabschneider! So was macht man doch nicht unter Deutschen! Wir sind fair. Keiner wird beschissen. Nicht so wie bei den Negern. Die beklauen sich und verkaufen ihre Kinder.

Er legt den rechten Fuß aufs Knie. Die wirren Gedanken schwimmen weiter in der Erinnerung des Horrorsamstags.

Das Schlimmste waren die Gestalten, die da rumhingen. Die kippten Berentzen. Rote Gesichter. Aufgedunsen. Zitternd. Und zugenickt haben die mir! Als wär‘ ich einer von denen. Ich. Einer von denen! Ich! Und die hatten nicht mal eigene Biergläser. Aus der Flasche ham die gesoffen. Voll die Hartzer! Assis.

Mit dem Zeigefinger pult er unter seinen Zehennägeln herum. Schwarze Klümpchen fallen zu Boden.

In einem sauberen Deutschland wäre für diesen saufenden Menschenmüll kein Platz. Ab ins Arbeitslager!

Sein Gehirn kommt langsam in Fahrt. Es ist 13:45 Uhr. Er hat noch 15 Minuten. Im Bad bekommt das ungewaschene Gesicht ein paar Spritzer ‚Old Spice‘. Über das durchgeschwitzte T-Shirt zieht er den Jogginganzug. „I love Mallorca“ steht auf dem Unterhemd. Das Geschenk seiner Mutter war mal weiß. Vor langer Zeit. Die Füße verschwinden in dreckigen Tennissocken, gefunden auf dem gefleckten Flokati. In seinen Adiletten-Plagiaten schlurft er los.

Die sind auch von meiner Mutter. Leider die falsche Größe. Zu klein. Aber was soll’s. Sind praktisch: Keine blöden Schnürsenkel. Er grinst. Bekomme ich manchmal nämlich nicht mehr zu. Im Alter wird der Mensch dem Baby immer ähnlicher. Hihihi.

Eine fast philosophische Erkenntnis. Diese mentale Eruption bleibt an diesem Wochenende isoliert und unwiederholt. Weitzel zündet sich die zweite Roth-Händle an. Die andere verglüht im Aschenbecher. Er schnappt sein grün-kariertes Einkaufswägelchen und zieht es müde in Richtung Penny. Die Räder quietschen. Es ist 13:55 Uhr. Die Frau an der Kasse wirft ihm einen freundlichen Blick zu. Sie kennt ihn. Sie treffen sich jeden Samstag hier. Ausländerfotze!, denkt Weitzel. Die Frau an der Kasse ist zwar Deutsche, aber Vorurteil ist Vorurteil.

„Oh, was ist denn mit ihrem Auge passiert? Das sieht ja schlimm aus, Sie Armer!“

Das geht dich einen Dreck an, du blöde Schlampe!

„Ich bin hingefallen. Aber nett, dass Sie nachfragen!“

„Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid!“

„Wird schon gehen. Aber Danke für das Angebot!“

Miststück! Hier kann man nicht mal anschreiben. Früher ging das in Deutschland noch! Da gab es noch Vertrauen.

Hausmeister Weitzel kennt sich aus. Er ist Jahrgang 1947.

Da gab es noch Ruhe und Ordnung. Unterm Führer gab es ordentlich Lebensmittelmarken. Zumindest für Deutsche!

Er schleppt sich durch die Gänge. Sein Auge schmerzt.

Und ich wäre bestimmt in der SA gewesen. Ein schneidiger SA-Mann mit eigener Uniform. Hätte mir gut gestanden. So eine richtige ordentliche Uniform. Eine, die wo die Frau abends bügeln muss. Daheim. Weil da gehört sie ja hin. So wie alle Fotzen. So eine Uniform wäre toll. Frisch gebügelt. Von der Mutti am Herd.

Neblig entsteht vor ihm eine SA-Formation. Seine Hand wandert unter das T-Shirt. Es juckt ihn zwischen den verklebten Achselhaaren. Das SA-Bild bleibt unscharf. Er muss sich konzentrieren. Die Regalreihen sind lang. Bunte Waren schreien ihn an. Er zählt die Bierflaschen.

Mariacron darf‘ ich nich‘ vergessen. Sonst muss ich wieder zum „Bierkäfig“. Hihihi. Gut, dass ich dran gedacht hab.

Langsam füllt sich das alte Einkaufswägelchen. Heute will er kochen. Eierravioli aus der Dose. Und dann ein Bier. Oder zwei.

Ich kann den zischenden Kronkorken schon hören.

An der Kasse fliegen noch zwei Päckchen Roth-Händle auf das Band. Und ein paar Jägermeister.

Die sind ideal zum Nachspülen. Und für zwischendurch.

„29 Euro 34“ sagt die Kassiererin.

„Hier sind 50 Euro.“

„20,66 zurück.“

Er steckt sie in seine ehemals königsblaue Jogginghose, die jetzt hellblau-ockerfarben gemustert ist. Die Münzen fallen durch ein Loch ins Innenfutter.

Das Geld muss eine Woche reichen. Die scheiß Ausländerfotze hat mir mein ganzes Geld geklaut. Für die paar Flaschen!!

Er zieht sein Wägelchen zurück. Kinder toben auf dem Bürgersteig.

„Haut ab“, brüllt er sie an.

Früher war alles billiger! Beim Führer hätte es so ’ne Abzocke nich‘ gegeben. Aber seit die Flüchtlinge hier sin‘, ist alles sauteuer geworden! Scheiß Ausländer! Und dahinter stecken wieder die Juden. Und die Islamisten. Die ham doch die Preise in der Hand. Weiß man ja. Sagen ja auch alle.

Die Herbstsonne strahlt. Er öffnet die Haustür. Alter Essensgeruch schlägt ihm entgegen. Die Souterrainwohnung liegt im Dunkeln. Er macht Licht. Viel gibt die nikotinvergilbte 40-Watt-Birne nicht her. Routiniert räumt er die Flaschen in den Kühlschrank. Er tastet nach seinem Dosenöffner. Den trägt er immer um den Hals. Es ist ein Erinnerungsstück von einem Kumpel, der bei der US-Army als Wachmann arbeitete. Damit öffnet er die Raviolidose. Der Öffner ist sein ganzer Stolz.

Sieht von Weitem wie die Erkennungsmarke eines Soldaten aus. Jeder denkt, ich sei Vietnamveteran. In echt im Krieg gewesen und so. Kriegsheld. Landser. Das waren knallharte Typen. Stalingrad. Ostfront. Windhunde. Kruppstahl.

Er dreht am Schraubverschluss einer Jägermeisterflasche. Als Koch darf ich mir vorher wohl mal einen Schluck genehmigen!

Süß rinnt das braune Gesöff seine Speiseröhre herunter. Fast zerreißt es ihm den leeren Magen. Die Galle kommt hoch. Es brennt im Rachen. Gekonnt kämpft Weitzel den Brechreiz nieder. Er schüttelt sich. Mit einer Roth-Händle bezwingt er den bitteren Geschmack.

Ganz schön hoch der Geschirrstapel. Ich bräuchte mal eine Putze. Als Deutscher müsste man das Recht haben, sich so eine Ausländerfotze ins Haus zu holen. Zum Saubermachen. Und so weiter.

Dummgeiles Grinsen. Ziehen an der filterlosen Kippe.

Und so weiter.

Instinktives Kratzen am Sack.

Hihi.

Nochmal kratzen.

Die Herdschlampe heirate ich dann gleich, dann kann sie auch nie wieder weg.

Schwanz von rechts nach links schieben.

Die Kleine im Keller war schon geil.

Brennendes Auge.

Die Eierravioli fangen an zu blubbern.

Schade, dass das im Keller nichts geworden ist.

Er wirft die Kippe in den Geschirrstapel.

Der hätt‘ ich’s besorgt.

Es riecht verbrannt.

Scheiße!

Weitzel trägt den heißen Topf ins Wohnzimmer und stellt ihn auf den Fernsehtisch. Daneben zwei Bier, einen Jägermeister für danach und die Fernbedienung. Er findet sie schnell zwischen den Kissen seiner Kunstledercouch.

Noch zwei Monate, dann ist die abbezahlt und ich bin meine Schulden bei Karstadt los! Bestimmt auch so eine Scheiß-Judenfirma.

Beim Essen schaut er Sport. Den Eurosportkanal schaltet er am liebsten ein. Bei den Naturbildern von Krombacher schüttet er sich die zweite Flasche Bier in den Hals.

Nach dem Essen hat er schon leichte Schlagseite. Vorsichtig balanciert er den Topf auf den Berg ungewaschenen Geschirrs. Der Stapel schwankt bedrohlich.

Morgen spül‘ ich mal.

Geschickt steckt er das Essbesteck in ein schimmlig riechendes Glas.

Für was hab‘ ich das denn gebraucht? Ein normales Glas?

Denkvorgang. Minuten vergehen. Jucken am Hinterkopf. Ablenkung durch das Betrachten der Schuppenreste unter den Fingernägeln. Gedankliche Rückkehr in die Küche.

Ach ja, da hatte ich die Aspirin drin aufgelöst am Mittwoch. Hmmm. Das war aber schon vorletzte Woche. Ich muss echt mal spülen … Hihihi.

Zurück im Wohnzimmer nickt er ein. Als er wieder erwacht, dämmert es draußen bereits. Ein leichter Nebel ist aufgezogen. Durch den halbgeöffneten Rollladen blickt er auf sein Außenthermometer. 8 Grad. In der Wohnung steht die Heizung auf Maximum. Die Fenster sind beschlagen, Kondenswasser läuft auf die Fensterbänke.

Saukalt heute. Da brauch ich wohl mal einen Mariacron zum Aufwärmen.

Weitzel öffnet die rundliche Flasche.

Das Telefon klingelt.

Was’n das jetzt?

„Hier Weitzel“, sagt er mit konzentriert fester Stimme. Ein Mann muss am Telefon entschlossen wirken, erinnert er sich. Ein Tipp aus der Bild-Zeitung: Der erste Eindruck zählt.

„Wie bitte? Was? Nein hier nichts Dschengis, hier Weitzel. Hier niemand außer ich. Capito? Nur ich. Nichts Bruder oder sonst wer. Scheiß Kanake. Ürgüürgürgülü. Blöder Türke.“ Wütend knallt er den Hörer auf.

Dreckspack. Hat sich verwählt das Arschloch. Zu doof, um drei Zahlen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Alle ausweisen! Scheiß Ausländer!

In der Telefonzelle in der Nettelbeckstraße hängt René den Hörer auf. Er ist vollkommen ruhig. Der Moment der Rache. Der Hausmeister ist kein echter Gegner. Er ist nur ein widerliches Dreckschwein.

Erich Weitzel kehrt zurück zu seiner Plastikcouchidylle vor dem flimmernden Fernseher. In einem Cognacschwenker lässt er den billigen Weinbrand kreisen. Von den Gläsern besaß er zwölf Stück. Es sind noch neun. Der Hausmeister kann nicht einmal halb so viele Freunde aufzählen, mit denen er die Schwenker benutzen könnte. Aber es hatte sie bei Aldi damals nur im Dutzend gegeben. Es war das letzte Glas im Schrank. Die anderen liegen irgendwo im grün melierten Geschirrberg.

„Sogar die Schwenker sind alle, ich muss wirklich spülen“ brummelt Weitzel vor sich hin. Ich glaub, ich hol mir ’ne Putze. So ’ne kleine Rumänin kost’ ja kaum was.

Er lehnt sich zurück. Ihm fallen die 20 Euro 66 Rückgeld ein. Aus der Hosentasche zieht er den 20-Euro-Schein. Das Hartgeld liegt unten im Saum.

Die Fotze hat mich reingelegt. Zuwenig Geld rausgegeben. Die Drecksau. Scheiß Ausländerfotze. Alle rausschmeißen. Alle zurück in die Berge. Oder die Wüste. Oder sonst wohin. Wo se halt herkommen. Alle raus! Beklauen einen hart arbeitenden Deutschen. Früher hätt’s das nicht gegeben!

Der 20-Euro-Schein lässt den Wunsch nach der Rumänenputze platzen. Er nimmt seine DVD-Sammlung im Eichenholzschrank in Augenschein. Seine Zigarette rollt auf die Ablage und brennt ein Loch das Furnier. Jetzt sind es fünf. Die DVDs sind ordentlich mit Titeln beschriftet: Rotkäppchen, Schneewittchen, Schneeweißchen und Rosenrot. Er zieht „Der Wolf und die sieben Geißlein“ aus dem Regal und legte die DVD in den Player. Ein Zeichentrickfilm. Der Hausmeister stapft in die Küche und holt die Flasche Mariacron.

Da muss ich net immer hin und her rennen. Net das ich noch hinfalle!

Er grinst wieder dümmlich in sich hinein.

Des is‘ gefährlich für’n alten Mann wie mich. Hihihi.

Ordentlich platziert er die Flasche auf einen Korkuntersetzer mit Hirschmotiv. Die Aufschrift zeigt zu ihm. Das hat ihm mal eine Bedienung erklärt: Das Etikett muss immer zum Gast zeigen. Weitzel achtet pedantisch auf solche Details.

Auf so was legen heutzutage die wenigsten Kneipen noch Wert. Dabei ist das doch gute alte Wirtshaustradition. So was ist doch wichtig. Wir sind das Volk!

Er rülpst. Wieder Galle. Mit Tomatensoße.

Der Cognacschwenker steht auf einem Untersetzer mit idyllischem Almhüttenmotiv. Erdnüsse wandern in ein lila Glasschälchen, fallen auf die labbrigen Salzstangen vom letzten Wochenende.

Der Hausmeister steht auf und lässt den Rollladen herunter. Damit nimmt er René die Sicht. Doch der hat genug gesehen.

Verdammt neblig draußen.

Für Weitzel ist die Idylle perfekt: voller Cognacschwenker, Nüsschenschale, Fernbedienung.

Der Zeichentrickwolf sagt: „Ich werde euch alle finden, wo ihr euch auch versteckt.“

Es klingelt.

Wassollndasjetzt? Werkönntndassein?

In leichter Schräglage wankt Weitzel zur Tür.

Er öffnet. Ein Lederhandschuh rast auf ihn zu. DasisneFaust!

Sein Nasenbein knackt. Schmerz durchzuckt ihn. Er schlägt die Hände vor das Gesicht und taumelt rückwärts gegen die Garderobe. Blut läuft über die Bartstoppeln. Der Tritt zwischen seine Beine lässt ihn nach vorne knicken. Er greift sich in den Schritt und schreit. Renés Ellenbogenspitze kracht auf seinen Rücken. Weitzel wird schwarz vor Augen. Bewusstlos fällt er flach auf den Boden. Die gebrochene Nase verschiebt sich nach links. Er spürt es nicht mehr.

René schließt die Tür. Er zieht die leblose Gestalt durch den schmalen Gang ins Wohnzimmer. Vor dem Fernseher setzt er sie auf den Boden. Aus seiner Umhängetasche nimmt er Handschellen, Hammer und Nagel. Er kettet Weitzels Handgelenk an die Heizung.

Dann greift er ihm in die Jogginghose und fingert angewidert seinen Schwanz aus der gelblichen Unterhose. Weitzel stinkt. Renés Blick schweift im Raum umher. Er sucht etwas aus Holz.

Die Stehlampe mit der Jagdszene ist ideal!

Mit einem Ruck stellt er ihm die Lampe zwischen die Beine und legt den klebrigen Penis auf den hölzernen Lampenfuß. Der Hausmeister brabbelt irgendwas. René nimmt Hammer und Nagel in die Hand.

Plötzlich hält er inne. Der laufenden Fernseher lenkt ihn ab. Aus dem Trickfilm sind echte Bilder geworden.

„Komm Kleine, nimm meinen Jonny in deinen Mund. Du willst doch nicht, dass ich dich schlage? Nachher bekommst du auch die blonde Barbie. Na los, leck meinen Jonny hart.“

René starrt entgeistert auf den Bildschirm. Ein Männerpenis baumelt vor dem Gesicht eines asiatischen Mädchens. Der Kleine ist höchstens fünf. Sie hat die Augen zugekniffen und öffnet den Mund. René kann nicht hinsehen. Das schmatzende Geräusch lässt ihn würgen. Er schlägt auf die Stopp-Taste und schließt die Augen. Ihm ist kotzübel.

Kinderpornografie. Das Schwein schaut auch noch Kinderpornos. Den bring ich um.

Voller Wut hebt er den Hammer. Er zielt auf Weitzels Kopf.

Du bist das Allerletzte. Du bist so ein richtiges Schwein.

Dann hält er inne.

Nein, das wäre zu einfach. Du sollst nicht schnell sterben. Du sollst leiden. Lange leiden. Wie die vergewaltigten Kinder. Ich bring dich hinter Gitter. Kinderschänder rangieren in der Knasthierarchie ganz unten. Du wirst leiden. Du schaust keine Kinderpornos mehr.

René nimmt den Hammer, drückt die Nagelspitze in die Penismitte und schlägt fest zu. Der Hausmeister brüllt auf. René schlägt ihm den Hammerstiel auf den Kopf. Ohnmächtig sackt der Kopf wieder zur Seite. Weitzels Glied ist jetzt fest mit dem hölzernen Lampenfuß verbunden. Die Wunde blutet leicht.

Hätte ich das gewusst, ich hätte dir das Teil mit dem Akkubohrer festgeschraubt. Oder mit Heißkleber.

René muss sich beherrschen.

Wut ist immer ein schlechter Berater. So passieren Fehler! Nie die Konzentration verlieren!

Weitzel atmet rasselnd. René durchwühlt den Wohnzimmerschrank. Hinter den DVDs wird er fündig. Pornomagazine aus Holland mit Minderjährigen. Fotos von nackten Kindern aus aller Welt. Der Hausmeister ist noch immer ohne Bewusstsein. Die Nase hat aufgehört zu bluten. Das Mallorca-T-Shirt ist rotbraun verschmiert. René blickt auf die Uhr: 19:06. Seit vier Minuten ist er in der Wohnung. Zeit zu gehen.

Er sammelt seine Sachen ein. Die Kinderpornohefte verteilt er im Wohnzimmer. Dann weckt er den Hausmeister. Der schaut ihn trüb an.

„Wiesotutmeinpimmelsowehdufotze?“

Die Schmerzen müssen unerträglich sein. René wählt die Nummer der Polizei und hält ihm den Hörer hin: „Hallo, 2. Polizeirevier. Wer spricht dort?“, fragt die Stimme.

Weitzels Verstand erwacht. Schmerzverzerrt keucht er in den Hörer: „Hier is Erisch Weidsel. Hausmeisder der Leipnidsssschule. Isch bin überfallen wordn. Von einer Frau. Bidde helfen Ssie mir. Mein Schwans tud sooo weh. Bidde gommen se sssschnell!“

René unterbricht die Leitung und steht auf. Er schaltet den DVD-Player wieder ein. Das kleine Mädchen hat den Penis im Mund. Ein Standbild erscheint, darauf der Schriftzug: „Der Kalif präsentiert: Geile Kindheit in Bangkok“. René druckt die Pausentaste.

Weitzel versteht. Sein Blick wird panisch. Er zerrt an den Handschellen. Der festgenagelte Schwanz schmerzt bei jeder Bewegung höllisch. Er schreit. René schaut ihn kalt durch die Augenlöcher seiner Maske an.

Ich hoffe, du wirst nie wieder Spaß mit deinem „Jonny“ haben!

Er würde den Hausmeister am liebsten anbrüllen. Doch er könnte sich an die Stimme erinnern oder seinen Akzent erkennen.

René öffnet die Tür. Er ist sicher, dass er nichts am Tatort vergessen hat.

Keine Spuren ist die beste Lebensversicherung.

Die Uhr zeigt 19:07. In frühestens einer Minute wird der erste Streifenwagen auftauchen. Draußen ist es dunkel und noch immer diesig. Kein Mensch zu sehen.

René verschüttet scharfes Chilipulver im Flur und vor der Haustür – für die Spürhunde. Ihre Nasen mögen so etwas nicht. Dann beginnt er den Heimweg. In einer vorher ausgekundschafteten Mülltonne entsorgt er alte Klamotten, die er aus einer Altkleidertonne gefischt hat, außerdem die Umhängetasche mit dem Werkzeug und die Chilipackungen. Die DNA auf den Klamotten passt zu irgendwem, aber nicht zu ihm. Das Werkzeug und die Chilipackungen sollen darauf hinweisen, dass die Kleider zum Täter gehören. Dann läuft er Richtung Diltheyschule zwischen den Wohnhäusern entlang. Sein Ziel ist ein Fahrrad. Er läuft bewusst in die falsche Richtung und macht einen großen Umweg. Dafür hat er einen Grund.

Wenn die Sachen gefunden werden, liegen sie nicht auf meinem echten Fluchtweg.

Nach ein paar Minuten ändert er die Laufrichtung und zieht sich die dünne Latexmaske mit dem Frauengesicht vom Kopf. Darunter trägt er eine Seidenhaube für Motorradfahrer. Er rollt sie nach oben. Sie sieht nun aus wie eine Mütze. Dann schlüpft er aus den Lederhandschuhen, streift die elastischen Fahrradregenschuhe von seinen Stiefeln, zieht Mantel und Hose aus. Er packt alles in eine Mülltüte und stopft sie in den Mülleimer eines Mietshauses. Er ist 500 Meter von der Schule entfernt. Die Strecke ist er in den letzten Tagen ein paar Mal abgelaufen. Die Gegend ist ihm vertraut. Jedes Detail hat er sich eingeprägt. Zu dieser Uhrzeit war nie jemand unterwegs. Seine Frauenarmbanduhr zeigt 19:12 Uhr.

Vermutlich läuft jetzt die Fahndung an. Zuerst haben die Polizisten die Kinderpornos gefunden, dann den verletzten Hausmeister. Einer ruft den Krankenwagen, der andere befragt den Weitzel. Der wird lallend eine Frau beschreiben.

René hat die äußere Kleidungsschicht ausgezogen. Die Frauenmaske zerreißt er in kleine Stückchen und verteilt die Teile auf verschiedene Mülltonnen. Dass sich das Latex auch wirklich mit bloßen Fingern zerkleinern lässt, hat er ebenfalls vorher getestet.

Nichts dem Zufall überlassen. Gute Planung ist die halbe Aktion. Alles vorher ausprobieren. Improvisieren muss man sowieso fast immer trotzdem.

Er trägt nun noch zwei Kleidungsschichten. Jetzt sieht er aus wie ein Metallarbeiter: Blaue Baumwollhose, blaue Jacke, ein kleiner Rucksack, dünne Handschuhe und eine Mütze.

Zügig läuft er weiter. Nach ein paar Minuten holt er zwei Turnschuhe, eine Kopflampe, einen Fahrradhelm und eine Puls-Messuhr aus dem Rucksack. Er zieht die Stiefel, die Handschuhe, die Motorradhaube und den Blaumann aus. Darunter trägt er Funktionswäsche für Sportler von Aldi. Er zieht die Turnschuhe über die hellen Socken und schaltet die Kopflampe ein. Seine billige Frauenuhr tauscht er gegen das Pulsmessgerät. Völlig ruhig entsorgt er die letzten Klamotten im nächsten Abfallkorb. Er ist nun mindestens einen Kilometer vom Tatort entfernt.

Dann trabt er los. Er hat einigen Vorsprung, aber zum Rad sind es noch zehn Minuten zu laufen. Er ist hoch konzentriert. Hat er etwas vergessen?

Der Kleidungswechsel müsste reichen, um die Spuren zu verwischen. Hautschuppen und Blutflecken vom Weitzel können nur auf meiner äußersten Kleiderschicht gelandet sein. Auch wenn irgendwo ein Fetzen Kleidung bei ihm in der Wohnung hängengeblieben sein sollte, stammt der von meiner äußersten Kleidungsschicht. Die hatte ich erst wenige Meter vor Weitzels Wohnung im Schulhof angezogen. Die Sachen waren unbenutzt, ich hatte sie erst vor Ort aus meinem Rucksack ausgepackt. Da trug ich schon Handschuhe, Seidenhaube und das Latex-Frauengesicht aus dem Partyladen.

Die zweite Schicht diente als Sicherheit, falls die äußerste Schicht kaputt geht, oder ich stark schwitze. Nun trage ich nur noch die unterste Schicht, also die innerste Schicht am Leib. Ich sehe aus wie ein Jogger. Da sind Details wichtig, wie die Puls-Messuhr oder die Kopflampe. Außerdem schwitze ich durch das Rennen und bin außer Atem. Mein Puls ist hoch. Außer den Sportsachen habe ich nichts mehr bei mir. Nur meinem Ausweis natürlich.

Am Fahrrad hat er eine warme Fahrradjacke und einen -helm deponiert. Er zieht beides an und öffnet das Zahlenschloss. Dann fährt er mit ordnungsgemäß eingeschalteter Beleuchtung los. Seine Wohnung liegt nur 600 Meter von der Leibnizschule entfernt. Trotzdem hat er über 45 Minuten für die Strecke gebraucht. Als er in die Yorkstraße einbiegt, kommt er aus Richtung Innenstadt.

„Wer sauber arbeitet, kann immer ruhig schlafen!“ Nach diesem Motto arbeitet René seit Jahren.

Zuhause angekommen duscht er ausführlich und stopft alle Klamotten in die Waschmaschine und wäscht sie mit dem Intensivprogramm bei 90 Grad. Die werfe ich morgen weg. Für alle Fälle! Dann setzt er sich an seinen laufenden PC. Er ist bei Facebook eingeloggt. Ein kleines Programm sorgt dafür, dass in den letzten zwei Stunden immer mal wieder kleine Bildchen und Nachrichten von ihm gepostet wurden. Parallel chattet er mit Unbekannten. Ein ebenfalls von ihm geschriebenes Programm sendet dort parallel seit ein paar Stunden Kommentare in die Diskussion in einem Forum. Die Bemerkungen, die angeblich von René stammen, sind sehr allgemein und nichtssagend, typische Chatfloskeln ohne Inhalt: „Der Meinung kann ich mich nur anschließen!“, „;-)) SEHR GUT!!!“, „LOL“ oder „Meines Wissens trifft das im Großen und Ganzen zu, aber ich bin kein Experte!“

René interessiert weder Facebook noch irgendein Chat, er hat es nur auf die protokollierten Online-Aktivitäten abgesehen, auf die Datenspur. Die ist einsichtig für Polizei und Geheimdienste. Damit kann er leicht beweisen, dass er zur Tatzeit zuhause vor dem PC saß.

René baut lieber einmal zu viel vor, als nochmal in den Knast zu kommen. Obwohl er es für sehr unwahrscheinlich hält, dass irgendeine Spur zu ihm führt. Der Hausmeister wird kaum von der versuchten Vergewaltigung von Isabella erzählen. René fühlt sich sicher. Aber Vorsichtsmaßnahmen können nie schaden!

Er deinstalliert seine Kommentar-Programme, verschlüsselt sie mehrfach und packt sie auf eine versteckte und mehrfach codierte Partition auf einer externen Festplatte. Die wird er morgen in einen Keller bringen, den er seit Jahren auf einen anderen Namen angemietet hat.

René kopiert die Protokolle seiner Facebook- und Chat-Aktivitäten, dann löscht er alle Spuren auf seinem Rechner und schaltet den PC ab. Zeit zu schlafen.